"Castelgrande"
Roberta Mazzola
Wenn eins die heutigen Beziehungen zwischen Kunst und Photographie
kennzeichnet, so ist es die unausgetragene Spannung, welche durch die
Photographie der Kunstwerke zwischen den beiden eintrat (Walter Benjamin,
Piccola storia della fotografia).
Nähern wir uns dem künstlerischen Schaffen Felice Varinis
in der Absicht, dessen wichtigste Komponenten zu beschreiben, so verraten
die am tauglichsten erscheinenden Begriffe insbesondere "Blickpunkt",
"Fokussierung" und "Bildausschnitt" eine
enge Verwandtschaft mit dem Vokabular der Fotografie. Wenn wir vom Konzept
ausgehen, das Varini bei all seinen künstlerischen Interventionen
umsetzt, sind die Unterschiede zwischen Malerei und Fotografie tatsächlich
minim. Im Mittelpunkt seiner Arbeiten steht das Problem der Falschheit
der Bilder im Verhältnis zur Echtheit der Wahrnehmung. Sie bedienen
sich der Fotografie und setzen sie, was die Strategie der Erzeugung
und Offenbarung von Ikonizität angeht, der Malerei gleich. Durch
ihren Ursprung, der auf die "Zeichenmaschine" und die Camera
obscura zurückgeht, ist die Fotografie eng mit den Werkzeugen des
Malers verbunden. Da sie aufzeigt, dass die Perspektive eine Konstruktion
ist, die auf einem festen Blickpunkt und einer monokularen Sehweise
beruht, radikalisiert sie das Thema der Malerei als Illusion: "Im
Fenster wie in der Photographie "scheint" sich die dahinterliegende
Welt unmittelbar einzuschreiben und abzubilden" (1). Bei der Arbeit
Réversible, die Varini 1986 im Musée dArt Moderne
de la Ville de Paris realisierte, tritt die fotografische mit der malerischen
Darstellung in Beziehung, indem sie den Teil des Raumes sichtbar macht,
der von einer Trennwand verdeckten ist, die zugleich auch Trägerin
des gemalten Bildes bzw. der verborgenen architektonischen Linien ist.
Johannes Meinhardt schreibt in seinem Essay über den Künstler
und dessen Schaffen von Ende der 70er-Jahre bis zur Gegenwart: Das
Grundprinzip ... ist es, zwei miteinander unvereinbare Wahrnehmungsweisen
oder Einstellungen, die von derselben Installation von Malereien im
Raum oder Photographien provoziert werden, einander entgegenzusetzen
und zugleich zu zeigen, dass beide nur unterschiedliche visuelle Wirkungen
sind, abhängig vom Blickpunkt des Betrachters (2). Ausgehend
von der Divergenz zwischen der Bildfläche und dem immer nur ausschnittsweise
wahrgenommenen Raum, entsprechend der minimalistischen Interpretation,
die in der malerischen Markierung von architektonischen Elementen zum
Ausdruck kommt, setzt sich Varini mit der ganzen Problematik der Beziehungen
zwischen der ästhetischen und der wahrgenommenen Realität
auseinander, die bereits für die Künstler der Frührenaissance
von zentralem Interesse waren und gemäss einem auf die Wahrnehmung
fokussierten, analytischen und phänomenologischen Ansatz in der
Gegenwartskunst eine besonders wichtige Rolle spielen. So nähert
die durch die Standortverschiebungen des Betrachters ausgelöste
Erfahrung einer Spaltung zwischen einer rein visuellen, ästhetischen
Ebene und einer materiellen Ebene, die sich dem Bild nicht mehr unterordnet,
das vom Künstler realisierte Konzept bestimmten Strategien an,
die im Rahmen einer von der Minimal Art geprägten analytischen
Malerei zum Tragen kommen (3).
Ein weiterer Aspekt, auf den Meinhardt eingeht, ist die Einzeichnung
der pikturalen Form mithilfe des Lichts. Varini projiziert eine Zeichnung
in den Raum, die er "nachmalt", so dass gewissermassen eine
Kopie, ein Abzug eines Diapositivs entsteht. Dadurch wird die illusionäre
Projektion umgedreht, und der Raum wird zum "Schirm", zum
Ort, an dem etwas Sichtbares angeboten wird. Die Unsichtbarkeit des
Trägers erlaubt es, die Fotografie wiederum mit dem Modell des
Malerischen zu vergleichen: "Und noch die Fläche des photographischen
Films ist eine solche transparente Fläche, die allerdings die Spuren
der energetischen Einschreibung objektiv bewahrt" (4). Adachiara
Zevi stellt in diesem Zusammenhang fest, dass der Künstler sich
im dreidimensionalen Raum wie ein Maler verhalte, der die Räumlichkeit
der Architektur verletzt, in der die Malerei verankert ist, und durch
die Reduzierung des Raumes auf ein zweidimensionales Bild eine Umkehrung
der perspektivischen Logik herbeiführt. Aber "wie bei einer
Anamorphose, die sich verzerrt und unkenntlich wird, wenn man sich vom
festen Blickpunkt entfernt, so lässt bei einem Werk Varinis die
kleinste Verschiebung weg vom Fokuspunkt fragmentarische, unzusammenhängende
Bilder entstehen, die an ihrer Umgebung haften und die Raumqualität
achten" (5). Bei dieser Umwandlung der Drei- in die Zweidimensionalität
verzichtet der Künstler auf die bequeme Bildfläche, um sich
wie ein Fotograf mit der widerspenstigen und heterogenen Materie der
dreidimensionalen Wirklichkeit auseinander zu setzen. Unweigerlich führt
die Frage der "Verwandtschaft" zwischen Malerei und Fotografie
dazu, dass sich die Aufmerksamkeit von den einzelnen Kunstformen zum
zugrunde liegenden allgemeinen Modell des Künstlerischen verschiebt.
So rückt eine der Kernfragen des 20. Jahrhunderts in den Vordergrund,
wie Claudio Marra ausführt, der "auf der einen Seite das Gemälde
und auf der anderen den ganzen Rest sieht (6). "Da sie nicht
mehr die einzige Darstellungsform war", schreibt Pierre Francastel
zum Thema der gegenseitigen Beeinflussung der beiden Kunstformen wandte
sich die Malerei immer mehr der Untersuchung der Wahrnehmungsprozesse
zu (7). Auch Meinhardt befasst sich im Zusammenhang mit dem Zerbröckeln
der absoluten Vorherrschaft des projizierenden Bewusstseins mit der
"Geburtshelferfunktion" der Fotografie : Durch ihr Auftauchen
drehte sich die Kausalität der Einschreibung um, und "die
Herrschaft des Blicks über den Raum und die Objekte "wurde
fraglich"(8).
Nicht zu vergessen ist auch die Funktion, welche die Fotografie für
Varini als Dokument übernimmt, das zwar nur ein fragmentarisches,
illusorisches Abbild darstellt, aber auch über das Ausstellungsereignis
hinaus noch verfügbar ist. Die Zusammenarbeit mit einem Fotografen
erlaubt es dem Künstler, Bilder seiner Werke in Publikationen zu
verbreiten. Es handelt sich um Erinnerungsfotos, wie Daniel Buren sie
nennen würde, die bezeugen, wie sich das Werk in einer ganz bestimmten
Situation präsentierte. Vor allem bei vergänglichen Arbeiten
können sie mit anderen Dokumentationsmöglichkeiten verglichen
werden, welche die Koordinaten für allfällige weitere Inszenierungen
an anderen Orten festlegen: "Zertifikate, Bezeichnungen, technische
Erklärungen, Diagramme und Installationspläne" , erklärt
Maddalena Disch, stellen zusammen eine ganze Reihe von Dokumenten
und zusätzlichen Anordnungen dar, die das Werk begleiten und bis
vor wenigen Jahrzehnten im Bereich des Ateliers, der Dokumentation und
der Erhaltung von Kunstwerken unbekannt waren. Zur in-situ-Arbeit, bei
der Zeitpunkt und Ort der Ausstellung ihre eigentliche Existenzberechtigung
darstellen, gehört auch diese Art des Diskurses, der sich um Stellung
und Existenz des Werks dreht (9). Um die drei Kreisfragmente einzufangen,
die frei in dem aus der Ansicht von Bellinzona und seiner Umgebung gebildeten
Raum schweben, muss der Betrachter zwischen den Zinnen des Castello
di Montebello den richtigen Blickpunkt in Richtung Castelgrande finden
(10 ). Es ist der Standort, von dem aus der Künstler seine Zeichnungen
projiziert hat, die Markierungen, die der Betrachter bereits als willkürlich
verteilte und zusammenhanglose rote Streifen kennt, die zur Feier der
Aufnahme der Burganlagen in die Liste der Weltkulturgüter der Unesco
ein paar Monate lang in bedeutsamer, doch beliebiger Weise die Stadt
und ihre Bauten markieren. Einen Augenblick zuvor erschien das Bild
der drei Kreisbögen noch gestaffelt auf verschiedenen Ebenen, bereit,
sich im veränderlichen Raum unserer alltäglichen Standortverschiebungen
zu verlieren; einzig von diesem zum Stehenbleiben auffordernden "Fenster
aus sorgen die farbliche Ähnlichkeit der Fragmente, die Kontinuität
der Linien und die gute Form" des Kreises gemeinsam für
die Fokussierung und gelangen zu einer zwingenden Lösung von klarer
Evidenz.
Die Erfahrung, dass willkürlich angeordnete, nicht zusammenpassende
pikturale Flächen sich plötzlich zu einer Bildebene zusammenfügen
und eine klare geometrische Form bilden, bleibt beim Projekt Segni zentral.
Für Varini ist dies eine weitere Möglichkeit, das Sehen und
damit die Malerei zu erforschen. Dank Maurice Merleau-Ponty wissen wir:
"In welcher Zivilisation eine Malerei immer entsteht, von welchem
Glauben, welchen Motiven, welchen Denkweisen und welchen Zeremonien
sie auch immer umgeben ist, selbst wenn sie für etwas anderes bestimmt
scheint, sei sie reine Malerei oder nicht, figürliche oder gegenstandslose
Malerei seit Lascaux bis zum heutigen Tage zelebriert sie kein
anderes Rätsel als das der Sichtbarkeit" (11). Das malerische
Konzept, das hier realisiert wird, bewahrt einige Voraussetzungen des
perspektivischen Tricks und verlangt einen Betrachter, der unbeweglich
vor der Bildfläche steht. Gleichzeitig sind wir aber auch aufgefordert,
uns an dem zu beteiligen, was sich uns durch die Bewegungen im vorgegebenen
Raum und die vielfältigen Blickpunkte offenbart: "Ich würde
mit dieser Formel enden: ein Blickpunkt, hunderttausend Blickpunkte,
erklärt der Künstler, der den Blickpunkt vor allem als etwas
Strategisches und Pragmatisches versteht, als Ort, der bestimmte Sichtverhältnisse
auf einen Ausschnitt der Welt bietet (12). Aus einer phänomenologischen
Perspektive ist die Wahrnehmung keine blosse Widerpiegelung der Dinge,
sondern aktives, konstruktives Sehen, das als Prozess abläuft,
da "die Welt aus eben dem Stoff des Körpers gemacht ist
und das Sehen von der Bewegung" abhängt (13). Es handelt
sich also nicht nur um einen vorgegebenen Raum (das bestehende architektonische
Umfeld) oder um einen dargestellten Raum (durch die pikturale Illusion
einer im Verhältnis zur Blickachse des Betrachters senkrechten
"Bildfläche"), sondern um die Fähigkeit selbst,
die Räumlichkeit als Wahrnehmungserfahrung zu erforschen
im "Hier und Jetzt" der Ausstellungssituation, durch den aktiven
Einbezug des Betrachters (14).
Wie wird der Raum für den Betrachter in einem bestimmten Kontext
und von einem bestimmten Blickpunkt aus sichtbar? Auch bei Felice Varinis
letzter Arbeit stellen sich diese Fragen, die das Sichtbarwerden des
Werks, sein Erscheinen und die Art, wie es sich dem Publikum darbietet,
in den Vordergrund rücken. Diesmal sah sich der Künstler aber
einer eher ungewöhnlichen Situation gegenüber, und in gewisser
Hinsicht haben wir es mit einer "Grenzarbeit" zu tun. Es handelt
sich um eine ganz neue Situation wegen der grossen Distanzen und der
Vielfalt der Bildträger, die zu markieren sind. Auf die Probe gestellt
werden vor allem die Techniken, die bei der Projektion und der konkreten
Realisierung des Bildes zur Anwendung kommen, das aus vorgedruckten
einfarbigen Streifen besteht, die auf den verschiedensten Oberflächen
haften. Eine "Grenzarbeit" ist das Werk auch wegen der Dimension
der Stadt, die hier hinzukommt und dazu führt, dass die Wahrnehmung
der einzelnen Fragmente, die Teilsicht, im Rahmen der räumlichen
Ausdehnung und der zeitlichen Diskontinuität der Wahrnehmungserfahrung
einen besonderen Wert erhält. Bestimmt auch wegen der Art des Bildes,
zu dem der Ort den Künstler inspirierte, denn diesmal fügt
es sich nicht zu einer vollendeten pikturalen Gestalt zusammen, zu einer
einfachen, klaren geometrischen Figur, wie wir uns dies gewohnt sind
nein, auch vom idealen Standpunkt aus bietet es einen polyzentrischen,
fragmentarischen Anblick, den der Betrachter induktiv vervollständigt.
Die Bildmitte besteht aus einem geometrischen Leerraum, und die durchbrochenen
Umrisslinien verleihen den drei Kreisen etwas Virtuelles, eine fragmentarische
Konnotation, die an den fragmentarischen und polyzentrischen Charakter
der modernen Stadt denken lässt. Anzufügen ist, dass sich
dieses temporäre, nicht auf Dauer angelegte Projekt an ein breites,
heterogenes Publikum richtet, dem man die richtigen Anweisungen erteilen
und die richtigen Fragen stellen muss, indem man den Raum des Gewohnten,
den Raum des Geschehens, den Raum der Unbeständigkeit und den Raum
des Möglichen in Bewegung setzt. Die Markierung, welche die Burg
mit der Piazza del Sole und der Strasse verbindet, aber auch mit dem
Horizont aus Bergen und Himmel, bringt auch gewisse Gefahren mit sich,
wie etwa jene, Interpretationsrahmen zu begünstigen, die kaum nutzbringend
oder sogar irreführend sind.
"Wenn der Ort sich auf die Art der Intervention auswirkt, so beeinflusst
die Intervention ihrerseits die Wahrnehmung des Ortes" (15). Durch
die Anbringung von "pikturalen" Zeichen im Stadtalltag, aber
auch durch das Bild, das sich dem Betrachter bietet, wenn er sein Objekt
vom idealen Standpunkt aus ins Visier fasst, wird die erwartete Wahrnehmung
des Raums durcheinander gebracht. Die Hierarchie zwischen Gestalt und
Hintergrund wird nicht endgültig festgelegt, und der Blick ist
alles andere als fixiert. Dem unbeständigen Bild, das keine Verbindung
mehr zu den Dingen hat, macht die Ansicht Bellinzonas ungern Platz,
so dass sich dem Betrachter auch ein neuer Anblick der Stadt und ihrer
Bauten erschliesst. Die roten Markierungen lassen ein anderes, zweidimensionales
Bild der Burg entstehen; Vektoren, Diskontinuitäten und das Räumlichkeit
erzeugende Spiel von Licht und Schatten wirken dabei entscheidend mit.
Und es genügt ein Auto, das auf der Strasse einen der Kreise durchquert,
um den Blick auf eine andere Art der Segmentierung zu lenken. Im gewählten
Umfeld, in der Begegnung mit dem Betrachter und dem Ort, zielt die malerische
Intervention darauf ab, eine ästhetische Dimension im eigentlichen
Sinne zu erschliessen, und verwendet vor allem ein Konzept, das
darauf bedacht ist, die Welt nicht unmittelbar auf stereotype Figuren
zu reduzieren, sie nicht in blosse Worte zu verwandeln
sondern
versucht, ihre Sensibilität spürbar zu machen, eine andere
Lesart, die uns einen Schauplatz zeigt, der mit bildlich erkennbaren
Objekten bevölkert ist, und uns die geringsten, wahrnehmungsbedingten
Merkmale ebendieser Objekte erkennen lässt (16). Das Projekt
Castelgrande ist in vielerlei Hinsicht mit einer Anzahl vergänglicher
Kunsterlebnisse vergleichbar, für welche die Fotografie die eigentliche
Existenzvoraussetzung geschaffen hat. Wir haben bereits von den Möglichkeiten
der Dokumentation von in-situ-Arbeiten gesprochen. Im weiteren Sinne
können wir auf zahlreiche künstlerische Phänomene eingehen,
die Ereignischarakter haben oder durch eine zeitlich und räumlich
unbeständige Situation gekennzeichnet sind. Bei diesen besteht
eine eigentliche Abhängigkeit von der Fotografie, ist sie doch
das Instrument, um die Kunstwerke zu verewigen, um sie aus verschiedenen
Perspektiven aufzunehmen, die bei der direkten Betrachtung oft unzugänglich
sind, um ihre Wirkung zu verstärken und ihre Verbreitung zu ermöglichen.
In vielen Fällen denken wir nur an die Land Art und die
Body Art sind es gerade die fotografischen Dokumente, die ausgestellt
werden, und die Fotografie nimmt für sich eine Authentizität,
eine Art Aura in Anspruch, die sie attraktiv macht. Dank
seiner analytischen Möglichkeiten ist das Objektiv ein wertvolles
Instrument für die Strategien der selektiven Beschreibung, die
darauf abzielen, den Lebensgeist des Werks in einem einzigen Fragment
einzufangen (17). In seiner Kleinen Geschichte der Photographie bezeichnet
Walter Benjamin die Fotografie als eigentliche "Verkleinerungstechnik"
, die grosse Plastiken und architektonische Werke erfassbar macht: "Und
doch ist die Wirkung der photographischen Reproduktion von Kunstwerken
für die Funktion der Kunst von sehr viel grösserer Wichtigkeit
als die mehr oder minder künstlerische Gestaltung einer Photographie"
(18).
"Die Fotografie" stellt Rudolf Arnheim fest
entspringt in erster Linie der Umgebung, in die sie unentwirrbar
verstrickt ist. "Sie verkörpert die absolute Notwendigkeit
des pragmatischen Blickpunkts", bekräftigt Philippe Dubois
in seinen Ausführungen zum fotografischen Akt, bei denen er von
der Besonderheit des Lichtabdrucks als einer Spur ausgeht, die nicht
der Logik der anderen Darstellungssysteme wie Malerei oder Zeichnung
folgt (19). Charles Sanders Peirce weiss, dass sie eher in die Kategorie
der Indizes als in jene der Ikone gehört, denn ihr Dasein ist nicht
ein blosses für etwas stehen, eine einfache Beziehung
zeitloser Ähnlichkeit, sondern es entspringt einer existenziellen
Verbindung mit den Dingen: "Photographien, besonders Momentaufnahmen,
sind sehr lehrreich, denn wir wissen, dass sie in gewisser Hinsicht
den von ihnen dargestellten Gegenständen genau gleichen. Aber diese
Ähnlichkeit ist davon abhängig, dass Photographien unter Bedingungen
entstehen, die sie physisch dazu zwingen, Punkt für Punkt dem Original
zu entsprechen. In dieser Hinsicht gehören sie also zu der zweiten
Zeichenklasse, die Zeichen aufgrund ihrer physischen Verbindung sind
(20). Die Fotografie kann nicht mehr, als die Existenz der von ihr gezeigten
Dinge zu bestätigen, und übernimmt entsprechend der bekannten
Definition von Roland Barthes die Funktion der Beglaubigung von
Präsenz (21). Als Index ist sie gleichzeitig
ein Instrument zur Bezeichnung, und darin liegt auch ihre Fähigkeit
zur metonymischen Ausbreitung, ihre "expansive Virtualität"
(22).
Die Idee, Varinis Projekt mit Aufnahmen von vier Fotografen Pino
Brioschi, Jordi Bernadò, André Morin und Pino Musi
zu dokumentieren, bringt die nichtmalerische Identität der Fotografie
ins Spiel und präsentiert von neuem die schwierige Herausforderung,
der sich die Fotografie selbst stellt, wenn sie mit dem Kunstwerk in
Beziehung tritt. Die Fotoausstellung bietet uns die Möglichkeit
einer kritischen Interpretation der Arbeit, einer Lesart, die es versteht,
das Werk sprechen zu lassen" dadurch, wie es im städtischen
Kontext in Erscheinung tritt, und durch das Verhalten des Betrachters,
in der ständigen "Interferenz von konkreten, ja ausserästhetischen
Werten (23). Die Fotografie, durch ihre Entstehung von der Einzigartigkeit
der Referenzsituation durchdrungen, offenbart die enge Bindung, die
zwischen Kunstwerk und Zufall besteht und entspricht in ihrer Ausschnittshaftigkeit
der Vorstellung eines zeitlich begrenzten Kunsterlebnisses. In der willkürlichen
Aufeinanderfolge der Bilder widerspiegelt sich das Experimentieren mit
unterschiedlichen Blickpunkten, die Unbeständigkeit und Widersprüchlichkeit
der perzeptiven und kognitiven Erfahrungen. Man könnte daher annehmen,
dass die Besonderheit des Klickens des Auslösers dafür sorgt,
dass sich die Ausstellung auf die möglichen Kontaminierungen stützt,
auf die Spannung an der Grenze des Möglichen, welche
die künstlerische Intervention von Castelgrande, gerade wegen ihrer
Offenheit gegenüber dem Umfeld und der weit gesteckten Grenzen,
im Dispositiv erzeugt, um das sich das gesamte Schaffen des Künstlers
dreht. Pino Musi nähert sich Varinis Projekt als Architekturfotograf.
Auf Farbe verzichtend, setzt er auf Lichtkontraste und Unterschiede
in Massstab und vektoriellem Potenzial der architektonischen Verkürzungen,
und nimmt das pikturale Zeichen als zusätzliches strukturierendes
Element ins Rechteck der Fotografie auf. Dieses hat sich von der Figur
gelöst, die es hervorgebracht hat, und tritt mit allen anderen
Zeichen in Verbindung, die als Feldlinien funktionieren in Wechselwirkung
mit den Schatten, welche die Bauwerke erzeugen, und in Übereinstimmung
mit ihrer geometrischen Logik und wird so zum Instrument, das
die Räumlichkeit demontiert und wieder neu zusammensetzt. Oft sind
es ein klarer Schnitt oder eine verzerrte Fläche, die eine vertiefte
Erforschung ermöglichen, bei der die Art und Weise des Umschlagens
von Drei- in Zweidimensionalität und im weiteren Sinne die Prozesse
der Assimilierung zwischen dem Raum und seiner Darstellung untersucht
werden. Aus geringer Entfernung wirken das pikturale Fragment und das
architektonische Detail bedrohlich und höchst befremdlich; das
Auge wird auf die stofflichen Unterschiede der Trägermaterialien
und die Variationen ihrer Textur gelenkt. Varinis Auseinandersetzung
mit der Architektur ermöglicht es dem Fotografen, ihre Bildfunktion
hervorzuheben, indem er ihre Form und die minimalen Merkmale ihrer Ausdruckskraft
erkundet und dabei ästhetische Überlegungen nicht ausser Acht
lässt.
André Morin hat schon mit zahlreichen Künstlern zusammengearbeitet,
die sich mit Architektur und Städtebau beschäftigen, und auch
mehrfach mit Felice Varini. In seinen Aufnahmen nimmt die pikturale
Spur einen bescheidenen Raum ein und verliert sich leicht zwischen den
Kulissen, die sich aus Häusern, Gassen und Plätzen eines Ortes
zusammensetzen, der seine Eigenart nur mit Mühe bewahrt. Castelgrande
mit seinen willkürlichen Markierungen erscheint vor dem Hintergrund
einer optisch geschichteten Stadt und lässt die Ansichten von Bellinzona
befremdlich werden. Die Aufnahmedistanz ist, so scheint es zumindest,
jene einer normalen Ansichtskarte, doch beim Erkunden der Fotografien
erkennt der Betrachter die Merkmale des Künstlerischen in den roten
Markierungen, in ihrer Distanz von den Orten des Alltags, in ihrer Sinnentleertheit
im Vergleich zu den Bewegungen, die sie bevölkern. Wo findet das
Kunsterlebnis statt? Mit welcher Kraft lenken diese unsinnigen Zeichen
den Blick zur Erfahrung der bildlichen Illusion und bringen den Betrachter
dazu, das Dispositiv in seiner unverzichtbaren Doppeltheit zu erkennen?
Welche Beziehung besteht zwischen dem Werk und seinem Publikum? Im Hier
und Jetzt der Betätigung des Auslösers, durch die Fähigkeit,
jenen Sekundenbruchteil des Ausschreitens einzufangen
und den Einbruch des Zufalls, des Unvorhergesehenen aufzuzeichnen, zeigt
uns Morin Varinis Intervention in einer Dimension, die bezüglich
der Interaktion mit dem städtischen Umfeld und der Dynamik der
Stadt zugleich am offensten und am verschlossensten ist (24).
Pino Brioschi präsentiert uns eine Reihe von Bildern, die sich
ganz auf die Burg konzentrieren. Er nutzt die Möglichkeit, ungewöhnliche
Blickpunkte zu wählen, erforscht den Bau von innen und von aussen,
betrachtet ihn von nahem und von weitem, von oben und von unten, unter
ständigem Wechsel der Aufnahmedistanz. Durch die Verkürzung
der Distanzen lässt er uns, gleichsam über das Sichtbare hinaus,
die Härte des Felsens spüren, auf dem sich das Castelgrande
erhebt, und zeigt uns zugleich, ähnlich wie Musi, wie die farbigen
Streifen auf dem architektonischen Untergrund haften. Brioschi erlebt
die Situation als farbige Note fern des Alltags, als Moment des kollektiven
Empfangs. Dies in der Stadt, die er gut kennt, und bei einem festlichen
Anlass, der die Begegnung und die Geselligkeit fördert, wie dies
früher der Fall war, ehe die Kunst von jeder anderen Funktion abgetrennt
wurde und ehe die Altstädte ihre Fähigkeit verloren, Mittelpunkt
des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu sein.
Dass Bellinzona in der Schweiz liegt, daran erinnert uns das Fähnchen
in der Aufnahme mit den Gartenzwergen. Sie fällt ins Auge, wenn
wir die Bilder von Jordi Bernadò betrachten, die uns zum Castello
di Montebello führen. Während wir uns dem von Varini gewählten
Blickpunkt nähern, um das Projekt Segni richtig zu erfassen, gehen
wir durch die leeren Strassen eines Ortes, der Mühe bekundet, sich
dem globalisierten Stil zu entziehen, der alle städtischen Peripherien
prägt. Als Fotograf vorstädtischer Landschaften konzentriert
sich Bernadò auf die architektonischen Typologien, die in einer
Situation der Entwurzelung fortbestehen, vor allem aber zeigt er uns
die Interaktionen zwischen den Zeichen vom Wappen bis zum Verkehrszeichen
anhand derer die Stadt ihre Geschichte erzählt. Die Gegenwart,
in die das Werk sich einschreibt, muss sich sowohl mit diesen Überschneidungen
und zeitlichen Unbeständigkeiten auseinander setzen, die Teil der
Wirklichkeit sind, in der die Intervention stattfindet, als auch mit
der Dauer des Kunsterlebnisses, die dem städtischen Kontext angepasst
ist und von einem motorisierten Betrachter ausgeht. Die Zeitdauer und
die Prozesshaftigkeit des Erlebens werden in ihre Subjektivität
zurückgeführt durch die Bewegungen des Fotografen und
die Abfolge der Bilder, die mit unvermuteten, ja irreführenden
Fokussierungen aufwarten und uns daran erinnern, dass jeder visuelle
Weg auch der Sinngebung dient. Der Blick des Fotografen wird so zum
Orientierungspunkt, was für die Konstruktion eines Betrachterstandpunkts
entscheidend ist, der eine gewisse Autonomie beansprucht und durch die
Wahl bestimmter Ausschnitte, durch voraussehbare Strukturen und legitime
Versehen an der Zuschreibung von Werten und an der Sinngebung
beteiligt ist (25). Indem er kleine Teilstücke aus dem Kontinuum
der Wahrnehmung schneidet, nähert sich Bernadò dem Ziel,
ohne auf die ironische Beleuchtung des voyeuristischen Blicks
zu verzichten, der unsere Beziehung zum Raum auf ein blosses Sehen in
Bildausschnitten reduziert. Im letzten Bild der Serie wird der Blickpunkt
des Fotografen zum Blickpunkt auf den Blickpunkt, doch der Standort,
der uns die bildliche Illusion erleben lässt, ist bereits von mindestens
zwei Betrachtern besetzt. Durch die Reibung, die diese zusätzlichen
Aufspaltungen im Sucher erzeugen, wirken die Fotografie und die Malerei
gemeinsam darauf hin, die Blickfalle aufzudecken.
1 ) Johannes Meinhardt, Die Wirklichkeit der ästhetischen Illusion.
Felice Varinis Blickfallen, Lugano, Edizioni Studio Dabbeni,
1999, S. 28. Die Definition der Zeichenmaschine hat ihren Ursprung im
Frankreich des 18. Jahrhunderts. Vgl. für Angaben zu den Vorläufern
der Fotokamera: Heinrich Schwarz, Arte e fotografia, Turin, Bollati
Boringhieri, 1991.
2) Johannes Meinhardt, op. cit., S. 12.
3) Für einen Vergleich zwischen Varini und anderen Vertretern der
postminimalistischen europäischen Malerei lese man neben Meinhardts
Essay auch die Abschrift des Vortrags, den Maddalena Disch am 27. November
1999 an der Accademia di Architettura in Mendrisio hielt: Maddalena
Disch, Felice Varini, Temporale, 50-5, 2000, S. 16-22.
4) Johannes Meinhardt, op. cit., S. 108.
5) Adachiara Zevi, Felice Varini: artificio antiprospettico,
Larchitettura, 427, 1991, S. 476.
6) Claudio Marra, Le idee della fotografia. La riflessione teorica dagli
anni Sessanta a oggi, Mailand, Mondadori, 2001, S. 185. Es handelt sich
um eine Anthologie kritischer Essays, die das Thema der Beziehung zwischen
der Fotografie und den anderen bildenden Künsten vertiefen.
7) Pierre Francastel, Lo spazio figurativo dal rinascimento al cubismo,
Turin, Einaudi, 1957, S. 125.
8) Johannes Meinhardt, op. cit., S. 112.
9) Maddalena Disch, op. cit., S. 20.
10) Im zweiten Teil dieses Aufsatzes geht es hauptsächlich um Varinis
Arbeit in der Burg Castelgrande. Dabei werden gewisse Überlegungen
aus einem von mir verfassten Artikel in der Rivista tecnica aufgenommen
und im Hinblick auf die Beziehungen zwischen der künstlerischen
Intervention und der Fotoausstellung weiterentwickelt, die weiter hinten
untersucht werden. Roberta Mazzola, Segni. Un intervento artistico
a Castelgrande di Bellinzona, Rivista tecnica, 13, 2001, S. 94-100.
11) Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, Hamburg, Felix Meiner,
1984, S. 19.
12) Felice Varini zitiert in Johannes Meinhardt, op. cit., S. 18.
13) Maurice Merleau-Ponty, op. cit., S. 16 und 15.
14) Zur Rolle der Phänomenologie bei der Untersuchung der Problematiken,
die mit den Begriffen Raum und Blickpunkt verbunden sind, vgl. Sandra
Cavicchioli (Hrsg.), Versus. Quaderni di studi semiotici, 73/74, 1996
(Monografische Ausgabe mit dem Titel La spazialità: valori, strutture,
testi).
15) Maddalena Disch, op. cit., S. 18.
16) Sandra Cavicchioli, Spazialità e semiotica: percorsi
per una mappa, Versus, op. cit., S. 33.
17) Peter Galassi betont, dass die Fotografie der Komposition in der
Renaissance-Kunst nicht dienlich gewesen wäre, und beschäftigt
sich eingehend mit den Strategien der analytischen Beschreibung in Malerei
und Fotografie: Peter Galassi, Prima della fotografia, Turin, Bollati
Boringhieri, 1989.
18) Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie,
in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,
Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1966, S. 60.
19) Rudolf Arnheim, Intuizione e intelletto, Milano, Feltrinelli, 1987,
S. 140. Philippe Dubois, Latto fotografico, in Claudio Marra,
op. cit., S. 177.
20) Charles Sanders Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 1, Frankfurt
am Main, Suhrkamp, 1986, S. 193. Vgl. dazu auch Rosalind Krauss, Das
Photographische: Eine Theorie der Abstände, München, Wilhelm
Fink, 1998.
21) Roland Barthes, Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie,
Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1989.
22) Philippe Dubois, op. cit., in Claudio Marra, op. cit., S. 322.
23) Valentina de Angelis, Arte e linguaggio nellera elettronica,
in Claudio Marra, op. cit., S. 223.
24) Walter Benjamin, op. cit., S. 50.
25) Das Thema des Versehens geht auf einen Beitrag von Giulia
Ceriani über die Fokussierungen des Theaterzuschauers zurück:
Giulia Ceriani, Vista, montaggio, svista: a proposito di ricezione
teatrale, Carte semiotiche, 4-5, 1988, S. 292-295. Der Text ist
in einer monografischen Ausgabe erschienen, die Carte semiotiche einem
von der Associazione Italiana di Studi Semiotici organisierten Symposium
über den Blickpunkt gewidmet hat.
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